Ein
kühler Luftzug zischte um die Spitze des Palastes von Rectis. Zu Fußen der
Stadt waren vier Gestalten zu erkennen, ihre langen hellblonden Haare wehten im
Wind. Regungslos und das Rauschen völlig ausblendend, starrten sie mit
konzentrierten Blick auf die Festung. Die Männer waren in Schwarz gekleidet, sodass
man sie in der Dunkelheit fast nicht erkennen konnte, doch ihre blutroten Augen
durchstachen die Nacht wie Pfeile. Die Figur in der Mitte trat hervor und blickte
kurz zu seinen Gefährten, dann nickte er ihnen zu. Die vier Gestalten
verschwanden.
Mit einer
unglaublichen Geschwindigkeit erklommen sie die Anhöhe und bewegten sich auf
die Stadtmauer zu, deren südliche Seite von einem Tor flankiert war. Das
Eingangsportal wurde von mehreren Soldaten in schweren Rüstungen bewacht, sie
bemerkten die vier nicht. Diese fixierten sie nun mit ihren Augen, sie schienen
sie mit ihren Blicken regelrecht durchbohren zu wollen. Plötzlich fielen die
Soldaten bewusstlos zu Boden.
Die
Männer wurden wieder sichtbar.
„Sehr gut“,
sagte ihr Anführer. „Lasst uns das endlich hinter uns bringen. Er wartet.“
Er nickte
seinen Kameraden zu und wurde unsichtbar. Bis zu diesem Moment war alles gut
verlaufen, anscheinend hatte sie niemand bemerkt.
-
In der
Festung war es ganz still, nicht einmal das Rauschen des Windes oder das
entfernte Besprechen der Soldaten war zu hören. In den Gängen waren alle Türen,
bis auf eine, geschlossen. Eine klare, singende Frauenstimme drang leise aus
dem Zimmer hervor.
Königin
Lira sang ihrer Tochter Lorane noch etwas vor, bevor sie sich zu Bett begab.
Mit einem langen, hohen Ton endete das Lied und die Frau verließ das Zimmer.
Kaum
hörte sie das Geräusch der sich schließenden Tür, sprang Lorane aus ihrem Bett
und eilte zu ihrem Kleiderschrank, gegen den sie klopfte. Ein erneutes Pochen
ertönte aus dem Inneren an ihr Ohr. Lorane öffnete die Tür und ein Junge fiel
mit einem gedämpften Schrei zu Boden. Er rappelte sich auf und lächelte das
Mädchen an, das sagte:
„Paul,
dir ist aber schon klar, dass ich dich nicht ständig insgeheim hier schlafen
lassen kann?“
Der Junge
feixte, griff sich einmal kurz durch sein schwarzes Haar und holte eine Decke
aus dem Schrank hervor.
Lira
hatte sich, als sie in ihre Gemächer
zurückgekehrt war, vor ihren Spiegel gesetzt und bürstete nun ihr langes, dunkelrotes Haar; das machte sie
immer bevor sie schlafen ging, obwohl ihr Mann oft gesagt hatte, dass dies
nicht nötig sei. Lira lachte, als sie gerade wieder daran denken musste und
drehte sich zu Merow um, der in einem Stuhl sitzend las. Er fuhr mit der Hand
durch seine haselnussbraunen Haare und gähnte.
„Jetzt
leg doch endlich mal das Buch beiseite“, sagte Lira. „Du sitzt schon den ganzen
Tag in diesem Stuhl, es wird Zeit ins Bett zu gehen.“
Merow
lächelte sie an, Lira tat es ihm gleich, dann klappte er sein Buch zu.
„Du hast
ja Recht. Ich bin auch schon langsam müde.“
Gerade
als er sich aus dem Stuhl erhoben hatte, klopfte es an der Tür. Er schaute Lira
mit fragendem Blick an und runzelte die Stirn. Nach einem Moment der Überlegung
öffnete er die Tür und ein junger Soldat stand vor ihm, er schien ganz
aufgeregt und war vollkommen außer Atem.
„Was ist
passiert? Warum klopfst du hier inmitten der Nacht?“
Lira
beobachtete mit gespanntem Blick, wie der Mann Merow etwas zuflüsterte, einige
wilde Gesten mit seinen Händen machte und dann verschwand. Merow schloss die
Tür und drehte sich zu seiner Frau um.
„Was
wollte der Mann?“, fragte sie.
Es
dauerte einen Augenblick, dann sah Merow sie an und antwortete mit trockener
Stimme:
„Du
solltest zu ihr gehen.“
Lorane schob
ihre Seite des Bettzeugs auf die Seite und legte Pauls Decke auf die Matte.
„Ich weiß
nicht, ob ich noch ein Kissen habe“, murmelte sie und beugte sich in ihren Schrank.
Paul
schmiss sich auf das überdimensionale Bett und streckte genüsslich die Beine
aus. Nach einigem Umsehen nahm er schließlich ein Buch von Loranes Nachttisch
und begann darin zu lesen.
Die Tür
ging auf und der helle Schein der Fackeln draußen im Gang warf sein Licht in
das Zimmer. Paul blickte von dem Buch hoch und sprang sofort auf. Verblüfft lief
Lorane zu ihm, um zu sehen wer da in der Tür stand.
„Paul,
was tust du denn hier?“
Der Junge
stotterte ein paar Mal, ohne jedoch ein richtiges Wort heraus zu bekommen.
„Mama,
wieso bist du noch mal hergekommen?“, fragte Lorane, als sie ihre Mutter
erkannt hatte.
Lira
schaute sich im Raum um, als erwartete sie jeden Moment, dass noch ein Freund
ihrer Tochter im Zimmer auftauchen könnte.
„Paul,
komm bitte mal zu mir.“
Zögernd
und mit rotem Gesicht trat er zu ihr vor.
„Du bist
doch ein mutiger Junge, oder?“ Paul nickte langsam. „Dann kannst du mir
bestimmt einen Gefallen tun?“
Er nickte
noch einmal. Lira beugte sich zu ihm hinunter und flüsterte ihm etwas ins Ohr.
Als sie sich wieder aufrichtete, fragte sie:
„Schaffst
du das?“
Wieder
nickte Paul, wenn auch nicht vollständig überzeugend. Lira ging auf den Tisch
zu, der neben Loranes Bett stand und griff nach einem Stück Papier. Hastig
tunkte sie die Feder in das Tintenfässchen und schrieb, um schließlich den
zusammengefalteten Text mit einem sanften Lächeln in Pauls Hand zu drücken.
„Was ist
denn los, Mama?“ fragte Lorane. „Bist du wütend, weil ich Paul heimlich in mein
Zimmer gelassen habe?“
Lira
lachte und ging einige Schritte auf ihre Tochter zu.
„Nein,
natürlich nicht. Es ist wohlmöglich ganz gut, dass du das getan hast.“
„Wirklich?“,
fragte Lorane ungläubig.
Lira nahm
sie an der Hand und setzte sie auf ihr Bett.
„Pass
auf, meine Kleine. Du musst jetzt genau zuhören, denn das ist sehr wichtig, was
ich dir sage. Draußen im Gang warten Soldaten auf euch. Ich möchte, dass du mit
Paul zu ihnen gehst und die Stadt verlässt.“
Lorane
schaute sie mit großen Augen an, sagte aber nichts.
„Flieht
so schnell ihr könnt und lasst euch nicht aufhalten, hast du mich verstanden?“
Lorane
nickte und da ihre Mutter nicht noch etwas sagte, fragte sie:
„Warum
soll ich denn die Stadt verlassen? Kommen du und Papa mit?“
Lira
schüttelte den Kopf.
„Es ist
wichtig, dass ihr allein geht, ich muss mit Papa hier bleiben.“
„Aber
warum sollen wir gehen?“, fragte Lorane ungeduldig und schaute direkt in die
Augen ihrer Mutter.
Diese
suchte nach einer Antwort, doch es dauerte lang, bis sie sie gefunden hatte.
„Weißt du
noch, was ich dir über die Männer aus den Bergen erzählt habe?“, fragte Lira.
„Diese Männer sind heute hier und es ist wichtig, dass sie dich nicht finden.“
Sie
konnte deutlich das Entsetzen auf Loranes kindlichem Gesicht sehen. Lira strich
ihr langsam über den Kopf und lächelte sanftmütig. Sie durfte sie nicht noch
nervöser machen.
„Ich
bleibe mit Papa hier, damit die bösen Männer euch nicht hinterherlaufen können.
Dein Vater sucht schon nach ihnen. Jetzt komm, zieh dich an, schnell!“
Lorane
rutschte von ihrem Bett herunter und zog sich schnell einen langes, blaues
Gewand und einen Umhang über ihr Nachthemd. Paul stand schon an der Tür und blickte
mit langem Hals den Korridor entlang.
„Mama,
ich will nicht gehen!“
Lorane
zog am Arm ihrer Mutter und schaute sie mit großen Augen an. Sie wusste nicht,
was soeben geschah, warum sie den Worten ihrer Mutter folgte, obwohl diese in
so zweifelndem Ton gesprochen hatte.
„Meine
Kleine“, sagte Lira und beugte sich zu ihr hinunter. „Mach dir keine Sorgen, es
wird schon alles gut gehen. Du verlässt doch nicht für immer unser Zuhause. Wir
werden dich wieder nach Hause holen.“
Lorane
versuchte zu nicken, doch es gelang ihr nicht. Tränen überfluteten ihre Wangen
und ein verzweifeltes Lächeln lag auf ihrem Gesicht. Diesen Anblick der eigenen
Tochter würde Lira so schnell nicht vergessen.
„Wirklich?
Ich werde euch bestimmt wiedersehen?“, fragte Lorane.
Lira
zögerte für einen ganz kurzen Augenblick.
„Bestimmt.“
„Wie
lange wird es dauern?“, hakte Lorane nach.
Lira
lächelte sie noch einmal an, dann sagte sie schwermütig:
„Ich weiß
es nicht.“
Sie nahm
die Hand ihrer Tochter, sie zitterte. Lorane umarmte ihre Mutter ausgiebig,
ihre Finger vergruben sich im Stoff ihres Kleides. Dann drückte Lira ihr einen
Kuss auf die Wange; sie bemerkte, dass Lorane sich alle Mühe gab einen weiteren
Schwall von Tränen zurückzuhalten.
„Jetzt
beeilt euch! Ich hab dich lieb“, fügte sie noch hinzu, als sie ihre Hand
losließ, dann wandte sie sich Paul zu. „Vergiss nicht, was ich dir gesagt
habe.“
Er nickte
stumm und griff nach der Hand von Lorane. Zögernd ließ diese sich mitziehen und
blickte noch solange auf die Tür ihres Zimmers zurück, bis sie in einem Abzweig
des langen Ganges stand, in dem zwei Soldaten auf sie warteten.
-
Rectis lag
in einsamer Stille. Nur allein das Rauschen des Windes hallte durch die Gassen
der großen Stadt und klopfte hier und da an die Türen und Fensterläden.
Lorane
trat durch das Tor und sofort wehte ihr eine warme Briese ins Gesicht. Sie
schaute sich mit verwundertem Gesichtsausdruck um; keine einzige der Wachen war
zu sehen, obwohl meist bis zu zehn Leute auf die Eintrittspforte achtgaben.
„Kommt,
wir müssen uns beeilen“, sagte einer der Soldaten.
Die
beiden Männer nahmen jeweils eins der Kinder auf ihre Arme. Lorane schnaubte,
dann sah sie wie sich plötzlich aus dem Rücken der Männer jeweils ein Paar
stattliche Flügel schoben. Der Anblick war ihr wohl vertraut, geflogen war sie
jedoch bis zu diesem Tag noch nie. Die blauen Augen der beiden Soldaten
wanderten ein letztes Mal über die Festung des Palastes, bevor sie mit einem
kräftigen Windstoß vom Boden abhoben.
Lorane
vergrub ihr Gesicht im Ärmel des Soldaten. Die Tatsache, dass sie flogen, war
nicht einmal das, was ihren Körper zum Zittern brachte. Sie spürte die Arme des
Mannes um sich und stellte sich vor einfach wieder in ihrem Bett zu liegen. In
ihren Ohren hallte die Stimme ihrer Mutter.
Plötzlich
durchdrangen mehrere Schreie Loranes Gehör. Das Scheppern von Rüstungen und aufgebrachtes
Grölen ertönte aus einer der Gassen. Loranes Kopf fuhr nach oben.
„Was war
das?“, fragte sie und schaute hastig umher.
Der
Soldat sah sich zwar ebenfalls um, antwortete aber nicht. Lorane sah zu Paul
hinüber, der aber zuckte nur ratlos mit den Schultern.
„Ich will
sehen, was passiert ist!“
„Unmöglich!“,
fuhr der Soldat sofort dazwischen. „Wir haben Befehle von Eurer Mutter und
können nicht-“
„Und ich
gebe euch den Befehl zu landen!“ Lorane sah den Mann mit eisernem Blick an. Die
Schreie hätten von Soldaten oder gar Bürgern der Stadt kommen können. Wenn es
tatsächlich eine Gefahr gab, konnte sie ihrem Volk nicht den Rücken zukehren.
Ihr Vater hatte ihr stets klargemacht, dass auch eine Prinzessin ihren Leuten
gegenüber Pflichten hatte.
„Aber-!“
Der Soldat flog nun auf der Stelle und warf seinem Kameraden nervöse Blicke zu.
„Ich
befehle euch zu landen!“, wiederholte Lorane.
Es
ertönte kein Widerwort und sie sanken hinab. Sie landeten nicht unweit des
Palastes entfernt und sofort sprangen die beiden Kinder von den Armen der
Männer. Die Soldaten packten die beiden an den Schultern und zogen sie in eine
der Nebengassen der Hauptstraße.
„Ihr wartet
hier“, gab der eine ihnen zu verstehen.
Lorane
und Paul versuchten beide Proteste einzulegen, der Blick der Soldaten machte
ihnen jedoch klar, dass sie bereits weit genug gegangen waren. Der Soldat, der
Paul getragen hatte verschwand in die Richtung, aus der die Geräusche gekommen
waren.
Kaum war
er um die Ecke gebogen, war es wieder ganz still. Lorane und Paul warteten.
Missmutig beäugten sie den zweiten Soldaten und die Gasse, in welcher sie
standen. Sie warteten lang, sehr lang. Der Soldat wurde ungeduldig, er fuhr mit
seiner Hand immer wieder über den Griff seines Schwertes. Gerade als Paul sich
nach Lorane umwandte, um etwas zu sagen, rannte diese plötzlich los.
„Es kam
aus dieser Richtung!“, murmelte sie.
Der
Soldat und Paul reagierten sofort. Lorane bog um dieselbe Ecke wie der andere
Wachmann, rannte eine kleine Gasse entlang, bis sie auf einem Hinterhof ankam.
Der
zweite Soldat wartete, als hätte er sich nicht von der Stelle bewegt. Wie
eingefroren betrachteten sie die Szenerie vor ihnen. Eine Schar von Soldaten
lag auf der Erde und rührte sich nicht mehr. Ihre Waffen lagen teils zerstört,
teils achtlos auf dem Boden neben ihnen. Unter den bewegungslosen Körpern hatte
sich der Boden dunkelrot gefärbt. Die Leichen der Männer waren zerrissen und
durchlöchert, Blut überzog ihre silbernen und blauen Rüstungen. In der Mitte
der Leblosen lag ein Mann, derer Lorane aufmerksam wurde. Durch die Blutlachen
stolperte sie näher heran, der Rest der Szenerie schien sie auszublenden. Der
Mann hatte sein Schwert noch in der Hand, sein haselnussbraunes Haar glänzte im
Schein des Vollmondes. Lorane stürzte auf ihn zu und drehte ihn um.
Merow
hatte die Augen geschlossen. Ein tiefer Schnitt durchzog seine linke
Gesichtshälfte und in seinem Brustkorb klaffte ein blutendes Loch. Doch Lorane
achtete überhaupt nicht darauf, sondern schüttelte den schlaffen Körper ihres
Vaters und spürte sofort wie die Tränen zurückkamen. Sie ließ ihren Kopf auf
seine Brust sinken; kein Klopfen war zu hören. Sie war nicht imstande etwas zu
sagen, Lorane schloss ihren leblosen Vater einfach in ihre Arme und wollte ihn
nie wieder loslassen. Sie weinte, sie weinte bitterlich in sich hinein, warum
sie eigentlich hier draußen war hatte sie vollkommen vergessen. Es konnte nicht
wahr sein. Erst vor wenigen Stunden hatte sie noch mit ihm im Thronsaal
gespielt. Er war leicht erbost mit ihr gewesen, weil sie versuchte hatte zu
schummeln. Das konnte nur ein schlimmer Traum sein, der sie nun dafür
bestrafte.
Von
hinten legte sich eine Hand auf ihre Schulter, sie reagierte nicht darauf. Paul
rüttelte Lorane leicht und versuchte ihre Arme von Merows Körper zu lösen.
„Lorane,
komm! Du kannst nichts mehr für ihn tun, wir müssen los, sie sind bestimmt
schon ganz nah!“
„Er- Er
hat Recht. Wir müssen uns beeilen!“, ertönte die matte Stimme des Soldaten.
Lorane
konnte hören, wie sie alle auf sie zukamen, aber sie rührte sich nicht. Sie
wollte darauf warten, dass Merow zu lachen begann und ihr sagte, dass er nur
gespielt hatte.
Paul
kniete sich zu ihr hinunter und sprach ihr ins Ohr: „Er wollte, dass du sicher
von hier weg kommst, er wollte dich beschützen. Willst du etwa, dass wir deinen
Vater enttäuschen?“
Lorane
blickte zu ihm auf, schniefte, wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und
schüttelte den Kopf. Sanft ließ sie ihren Vater zu Boden gleiten und nahm ihre
Hand von seiner Brust. Zögerlich trottete sie zu dem Soldaten hinüber, ihre
eigene Kleidung nun mit Blut befleckt, und blickte immer wieder auf den toten
Körper zurück, bis sie erneut die Flügel sah und sich in den Armen des Soldaten
versteckte.
Der Wind
zischte an ihnen vorbei, Loranes Tränen verflogen über den Dächern. Nach
einigen Minuten erreichten sie schließlich die Stadtmauer von Rectis. Das
große, silbern schimmernde Tor stand offen, seine Wachen lagen ohnmächtig am
Boden. Ohne sich nach ihren Kameraden umzusehen, landeten die beiden Soldaten
unweit der Hauptstraße entfernt.
„Schnell!
Folgt mir!“ Der Mann, der Lorane getragen hatte, deutete die abschüssige
Landschaft hinab.
Paul
musste Lorane regelrecht mit sich zerren und gemeinsam machten sie sich daran
den Hügel hinab zu eilen ohne auf dem spröden Stein auszurutschen.
„Wo gehen
wir überhaupt hin?“, rief Lorane.
Paul warf
fieberhaft einen Blick über die Schulter; er sah niemanden.
„Es ist
nicht mehr weit!“, sagte der Soldat hinter ihnen. „Wir müssen Euch nur von hier
wegbringen!“
Sie kamen
an einem Felsvorsprung an, wo einige Stufen in den Felsen geschlagen worden
waren. Zwei Fackeln brannten dort zwischen den grauen Steinen, die den Eingang
zu einem Tunnel flankierten. Der erste Soldat rannte hinunter. Hinter ihr sah
Lorane aus dem Winkelwinkel, wie der zweite Soldat soeben die Hand ausstreckte,
um sie unterstützend am Arm zu greifen. Dann schrie er und stürzte zu Boden. Am
Kopf der Treppe wandte Lorane sich um und sah nicht, dass sie ins Leere trat.
Paul war
bereits hinabgestiegen und sah wie ihr Körper die Felsen hinabstürzte. Panisch rannte
er zu ihr und drehte ihren bewusstlosen Körper um. Blut floss aus einer Wunde
an ihrem Kopf, sie atmete aber noch, wie er erleichternd feststellte.
„Nimm sie
und lauf in den Tunnel!“, wies der Soldat abrupt an. Er holte den Zettel von
Lira hervor, den Paul ihm gegeben hatte. „Tu das, was hier steht und bring sie
in Sicherheit!“
Paul
stutzte einen Augenblick, dann hörte er erneut den Schrei des zweiten Soldaten
oberhalb der Stufen.
„Sie sind
hier, beeil dich!“
Hastig
wischte Paul das Blut aus Loranes Gesicht, dann half der Soldat ihm hastig
dabei sie auf seinen Rücken zu nehmen. Paul rannte an den Flammen vorbei in das
Innere des Berges. Zuerst hallte das Grölen des Wachmannes an sein Ohr. Kurz
darauf glaubte er im Tunnel Schritte in der Ferne hören zu können. Furcht durchzog
Pauls Muskeln, seine Lunge brannte, aber er musste schneller sein!
Er kam am
Ende des Ganges an und betrat einen etwas größeren Hohlraum. Dieser war von
Fackeln erleuchtet, auch hier befand sich eine Treppe, die zu einer kleinen
Erhöhung hinaufführte. Paul lief die Stufen hinauf, nahm Lorane von seinen
Schultern und legte sie vorsichtig zu Boden. Er kramte Liras Zettel aus seiner
Hosentasche und gerade als er den Mund öffnete, um etwas zu sagen, hörte er
dieses leise, kalte Lachen hinter sich. Er warf einen Blick über die Schulter.
„Komm
Junge, lass uns das einfach alles vergessen und gib uns das Mädchen“, sagte ihr
Anführer, der einen Schritt auf Paul zuging.
Dieser
erwiderte nichts und starrte ihn an. Er musste versuchen sich abzuwenden, doch
er kam nicht umhin eine Frage zu stellen.
„Wer seid
ihr?“
Der Mann
vor ihm lachte, diesmal klang es wärmer und dann zog er die schwarze Vermummung
von seinem Gesicht. Ein junger Mann stand vor Paul, er hatte ein schmales,
blasses Gesicht und unter seinem linken Auge verlief eine helle Narbe, die sich
bis zu seiner Nase zog. Seine Augen waren blutrot und hefteten sich sofort an
Pauls Anblick wie gierige Insekten.
„Ein
neugieriges Kind. Mein Name ist Tyranne und ich bin der Anführer dieser Truppe,
die jedem Wort unseres Königs folgeleistet. Apropos“, fügte er hinzu und wurde
plötzlich ernst. „Gib uns das weswegen wir hier sind! Her mit dem Mädchen!“ Für
einen Moment setzte er wieder dieses gutgemeinte Lächeln auf. „Ich will dich
nicht zwingen müssen.“
Paul
wandte sich nun endgültig um. Er konnte ihnen Lorane nicht geben! Andererseits
würden sie sie einfach holen, wenn er sie ihnen nicht überließ. Gegen die Leute
aus dem Norden hatte niemand eine Chance, das wusste er. Langsam lief er auf
den Aufgang zu, wo Lorane noch immer ohnmächtig lag und von allem nichts
bemerkte. Er trat an sie heran und beugte sich zu ihr hinunter. Den Rücken
hatte er den Männern zugewandt, die nicht sahen, dass er in seiner Hand noch
immer die aufgefaltete Notiz hielt. Während er vorgab behutsam eine Hand auf
sie zu legen, flüsterte er schnell einige Worte in einer seltsam klingenden
Sprache, welche er von Liras Papier so klar wie möglich ablas.
Lorane
glühte auf, Paul stieß einen Schmerzensschrei aus und zog seine Hand zurück. Er
stolperte einige Schritte nach hinten. Loranes Körper begann sich in Licht
aufzulösen und schwebte über dem Boden.
„WAS HAST
DU GETAN?!“, kreischte Tyranne.
Paul fiel
die Treppe hinunter, als von Lorane ein heller Lichtblitz ausging und sie alle
für einige Sekunden nichts sahen. Als Paul wieder die Augen öffnete musste er
feststellen, dass sie verschwunden war, ohne eine Spur hinterlassen zu haben.
Mit
offenem Mund starrte er auf die Stelle, an der sie vor wenigen Sekunden noch gelegen
hatte. Schwankend rappelte er sich vom Boden auf. Lira hatte ihm nicht erzählt
was sie geschrieben hatte oder was passieren würde. Sie hatte ihm gesagt, dass
sie die Befehle an den Soldaten weiterreichen und sie notfalls an sich nehmen
sollte. In den Buchstaben der allgemeinen Sprache hatte sie Worte geschrieben,
die keinen Sinn ergaben, doch die Anweisung war klar und deutlich gewesen:
Lies diese Worte, wenn Lorane sich im Tempel
befindet.
Wie
gebannt betrachtete Paul die Stelle, an der seine beste Freundin ins Nichts
verflogen war.
„Das
hättest du lieber nicht getan, Bürschchen!“
Paul blinzelte einmal, zweimal, bewegte sich
aber nicht. Er wusste nicht, was er jetzt tun sollte. Wortlos blickte er
einfach an den Männern in Schwarz vorbei. Tyranne lief auf ihn zu, seine
Gefährten folgten ihm auf den Fuß. Paul versuchte nicht einmal zu fliehen, er
schloss einfach die Augen und wartete.
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