Mittwoch, 13. April 2016

Die Legende von Alteria - 1. Kapitel

Ein kühler Luftzug zischte um die Spitze des Palastes von Rectis. Zu Fußen der Stadt waren vier Gestalten zu erkennen, ihre langen hellblonden Haare wehten im Wind. Regungslos und das Rauschen völlig ausblendend, starrten sie mit konzentrierten Blick auf die Festung. Die Männer waren in Schwarz gekleidet, sodass man sie in der Dunkelheit fast nicht erkennen konnte, doch ihre blutroten Augen durchstachen die Nacht wie Pfeile. Die Figur in der Mitte trat hervor und blickte kurz zu seinen Gefährten, dann nickte er ihnen zu. Die vier Gestalten verschwanden.
Mit einer unglaublichen Geschwindigkeit erklommen sie die Anhöhe und bewegten sich auf die Stadtmauer zu, deren südliche Seite von einem Tor flankiert war. Das Eingangsportal wurde von mehreren Soldaten in schweren Rüstungen bewacht, sie bemerkten die vier nicht. Diese fixierten sie nun mit ihren Augen, sie schienen sie mit ihren Blicken regelrecht durchbohren zu wollen. Plötzlich fielen die Soldaten bewusstlos zu Boden.
Die Männer wurden wieder sichtbar.
„Sehr gut“, sagte ihr Anführer. „Lasst uns das endlich hinter uns bringen. Er wartet.“
Er nickte seinen Kameraden zu und wurde unsichtbar. Bis zu diesem Moment war alles gut verlaufen, anscheinend hatte sie niemand bemerkt.
-
In der Festung war es ganz still, nicht einmal das Rauschen des Windes oder das entfernte Besprechen der Soldaten war zu hören. In den Gängen waren alle Türen, bis auf eine, geschlossen. Eine klare, singende Frauenstimme drang leise aus dem Zimmer hervor.
Königin Lira sang ihrer Tochter Lorane noch etwas vor, bevor sie sich zu Bett begab. Mit einem langen, hohen Ton endete das Lied und die Frau verließ das Zimmer.
Kaum hörte sie das Geräusch der sich schließenden Tür, sprang Lorane aus ihrem Bett und eilte zu ihrem Kleiderschrank, gegen den sie klopfte. Ein erneutes Pochen ertönte aus dem Inneren an ihr Ohr. Lorane öffnete die Tür und ein Junge fiel mit einem gedämpften Schrei zu Boden. Er rappelte sich auf und lächelte das Mädchen an, das sagte:
„Paul, dir ist aber schon klar, dass ich dich nicht ständig insgeheim hier schlafen lassen kann?“
Der Junge feixte, griff sich einmal kurz durch sein schwarzes Haar und holte eine Decke aus dem Schrank hervor.

Lira hatte sich, als sie  in ihre Gemächer zurückgekehrt war, vor ihren Spiegel gesetzt und bürstete nun  ihr langes, dunkelrotes Haar; das machte sie immer bevor sie schlafen ging, obwohl ihr Mann oft gesagt hatte, dass dies nicht nötig sei. Lira lachte, als sie gerade wieder daran denken musste und drehte sich zu Merow um, der in einem Stuhl sitzend las. Er fuhr mit der Hand durch seine haselnussbraunen Haare und gähnte.
„Jetzt leg doch endlich mal das Buch beiseite“, sagte Lira. „Du sitzt schon den ganzen Tag in diesem Stuhl, es wird Zeit ins Bett zu gehen.“
Merow lächelte sie an, Lira tat es ihm gleich, dann klappte er sein Buch zu.
„Du hast ja Recht. Ich bin auch schon langsam müde.“
Gerade als er sich aus dem Stuhl erhoben hatte, klopfte es an der Tür. Er schaute Lira mit fragendem Blick an und runzelte die Stirn. Nach einem Moment der Überlegung öffnete er die Tür und ein junger Soldat stand vor ihm, er schien ganz aufgeregt und war vollkommen außer Atem.
„Was ist passiert? Warum klopfst du hier inmitten der Nacht?“
Lira beobachtete mit gespanntem Blick, wie der Mann Merow etwas zuflüsterte, einige wilde Gesten mit seinen Händen machte und dann verschwand. Merow schloss die Tür und drehte sich zu seiner Frau um.
„Was wollte der Mann?“, fragte sie.
Es dauerte einen Augenblick, dann sah Merow sie an und antwortete mit trockener Stimme:
„Du solltest zu ihr gehen.“

Lorane schob ihre Seite des Bettzeugs auf die Seite und legte Pauls Decke auf die Matte.
„Ich weiß nicht, ob ich noch ein Kissen habe“, murmelte sie und beugte sich in ihren Schrank.
Paul schmiss sich auf das überdimensionale Bett und streckte genüsslich die Beine aus. Nach einigem Umsehen nahm er schließlich ein Buch von Loranes Nachttisch und begann darin zu lesen.
Die Tür ging auf und der helle Schein der Fackeln draußen im Gang warf sein Licht in das Zimmer. Paul blickte von dem Buch hoch und sprang sofort auf. Verblüfft lief Lorane zu ihm, um zu sehen wer da in der Tür stand.
„Paul, was tust du denn hier?“
Der Junge stotterte ein paar Mal, ohne jedoch ein richtiges Wort heraus zu bekommen.
„Mama, wieso bist du noch mal hergekommen?“, fragte Lorane, als sie ihre Mutter erkannt hatte.
Lira schaute sich im Raum um, als erwartete sie jeden Moment, dass noch ein Freund ihrer Tochter im Zimmer auftauchen könnte.
„Paul, komm bitte mal zu mir.“
Zögernd und mit rotem Gesicht trat er zu ihr vor.
„Du bist doch ein mutiger Junge, oder?“ Paul nickte langsam. „Dann kannst du mir bestimmt einen Gefallen tun?“
Er nickte noch einmal. Lira beugte sich zu ihm hinunter und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Als sie sich wieder aufrichtete, fragte sie:
„Schaffst du das?“
Wieder nickte Paul, wenn auch nicht vollständig überzeugend. Lira ging auf den Tisch zu, der neben Loranes Bett stand und griff nach einem Stück Papier. Hastig tunkte sie die Feder in das Tintenfässchen und schrieb, um schließlich den zusammengefalteten Text mit einem sanften Lächeln in Pauls Hand zu drücken.
„Was ist denn los, Mama?“ fragte Lorane. „Bist du wütend, weil ich Paul heimlich in mein Zimmer gelassen habe?“
Lira lachte und ging einige Schritte auf ihre Tochter zu.
„Nein, natürlich nicht. Es ist wohlmöglich ganz gut, dass du das getan hast.“
„Wirklich?“, fragte Lorane ungläubig.
Lira nahm sie an der Hand und setzte sie auf ihr Bett.
„Pass auf, meine Kleine. Du musst jetzt genau zuhören, denn das ist sehr wichtig, was ich dir sage. Draußen im Gang warten Soldaten auf euch. Ich möchte, dass du mit Paul zu ihnen gehst und die Stadt verlässt.“
Lorane schaute sie mit großen Augen an, sagte aber nichts.
„Flieht so schnell ihr könnt und lasst euch nicht aufhalten, hast du mich verstanden?“
Lorane nickte und da ihre Mutter nicht noch etwas sagte, fragte sie:
„Warum soll ich denn die Stadt verlassen? Kommen du und Papa mit?“
Lira schüttelte den Kopf.
„Es ist wichtig, dass ihr allein geht, ich muss mit Papa hier bleiben.“
„Aber warum sollen wir gehen?“, fragte Lorane ungeduldig und schaute direkt in die Augen ihrer Mutter.
Diese suchte nach einer Antwort, doch es dauerte lang, bis sie sie gefunden hatte.
„Weißt du noch, was ich dir über die Männer aus den Bergen erzählt habe?“, fragte Lira. „Diese Männer sind heute hier und es ist wichtig, dass sie dich nicht finden.“
Sie konnte deutlich das Entsetzen auf Loranes kindlichem Gesicht sehen. Lira strich ihr langsam über den Kopf und lächelte sanftmütig. Sie durfte sie nicht noch nervöser machen.
„Ich bleibe mit Papa hier, damit die bösen Männer euch nicht hinterherlaufen können. Dein Vater sucht schon nach ihnen. Jetzt komm, zieh dich an, schnell!“
Lorane rutschte von ihrem Bett herunter und zog sich schnell einen langes, blaues Gewand und einen Umhang über ihr Nachthemd. Paul stand schon an der Tür und blickte mit langem Hals den Korridor entlang.
„Mama, ich will nicht gehen!“
Lorane zog am Arm ihrer Mutter und schaute sie mit großen Augen an. Sie wusste nicht, was soeben geschah, warum sie den Worten ihrer Mutter folgte, obwohl diese in so zweifelndem Ton gesprochen hatte.
„Meine Kleine“, sagte Lira und beugte sich zu ihr hinunter. „Mach dir keine Sorgen, es wird schon alles gut gehen. Du verlässt doch nicht für immer unser Zuhause. Wir werden dich wieder nach Hause holen.“
Lorane versuchte zu nicken, doch es gelang ihr nicht. Tränen überfluteten ihre Wangen und ein verzweifeltes Lächeln lag auf ihrem Gesicht. Diesen Anblick der eigenen Tochter würde Lira so schnell nicht vergessen.
„Wirklich? Ich werde euch bestimmt wiedersehen?“, fragte Lorane.
Lira zögerte für einen ganz kurzen Augenblick.
„Bestimmt.“
„Wie lange wird es dauern?“, hakte Lorane nach.
Lira lächelte sie noch einmal an, dann sagte sie schwermütig:
„Ich weiß es nicht.“
Sie nahm die Hand ihrer Tochter, sie zitterte. Lorane umarmte ihre Mutter ausgiebig, ihre Finger vergruben sich im Stoff ihres Kleides. Dann drückte Lira ihr einen Kuss auf die Wange; sie bemerkte, dass Lorane sich alle Mühe gab einen weiteren Schwall von Tränen zurückzuhalten.
„Jetzt beeilt euch! Ich hab dich lieb“, fügte sie noch hinzu, als sie ihre Hand losließ, dann wandte sie sich Paul zu. „Vergiss nicht, was ich dir gesagt habe.“
Er nickte stumm und griff nach der Hand von Lorane. Zögernd ließ diese sich mitziehen und blickte noch solange auf die Tür ihres Zimmers zurück, bis sie in einem Abzweig des langen Ganges stand, in dem zwei Soldaten auf sie warteten.
-
Rectis lag in einsamer Stille. Nur allein das Rauschen des Windes hallte durch die Gassen der großen Stadt und klopfte hier und da an die Türen und Fensterläden.
Lorane trat durch das Tor und sofort wehte ihr eine warme Briese ins Gesicht. Sie schaute sich mit verwundertem Gesichtsausdruck um; keine einzige der Wachen war zu sehen, obwohl meist bis zu zehn Leute auf die Eintrittspforte achtgaben.
„Kommt, wir müssen uns beeilen“, sagte einer der Soldaten.
Die beiden Männer nahmen jeweils eins der Kinder auf ihre Arme. Lorane schnaubte, dann sah sie wie sich plötzlich aus dem Rücken der Männer jeweils ein Paar stattliche Flügel schoben. Der Anblick war ihr wohl vertraut, geflogen war sie jedoch bis zu diesem Tag noch nie. Die blauen Augen der beiden Soldaten wanderten ein letztes Mal über die Festung des Palastes, bevor sie mit einem kräftigen Windstoß vom Boden abhoben.
Lorane vergrub ihr Gesicht im Ärmel des Soldaten. Die Tatsache, dass sie flogen, war nicht einmal das, was ihren Körper zum Zittern brachte. Sie spürte die Arme des Mannes um sich und stellte sich vor einfach wieder in ihrem Bett zu liegen. In ihren Ohren hallte die Stimme ihrer Mutter.
Plötzlich durchdrangen mehrere Schreie Loranes Gehör. Das Scheppern von Rüstungen und aufgebrachtes Grölen ertönte aus einer der Gassen. Loranes Kopf fuhr nach oben.
„Was war das?“, fragte sie und schaute hastig umher.
Der Soldat sah sich zwar ebenfalls um, antwortete aber nicht. Lorane sah zu Paul hinüber, der aber zuckte nur ratlos mit den Schultern.
„Ich will sehen, was passiert ist!“
„Unmöglich!“, fuhr der Soldat sofort dazwischen. „Wir haben Befehle von Eurer Mutter und können nicht-“
„Und ich gebe euch den Befehl zu landen!“ Lorane sah den Mann mit eisernem Blick an. Die Schreie hätten von Soldaten oder gar Bürgern der Stadt kommen können. Wenn es tatsächlich eine Gefahr gab, konnte sie ihrem Volk nicht den Rücken zukehren. Ihr Vater hatte ihr stets klargemacht, dass auch eine Prinzessin ihren Leuten gegenüber Pflichten hatte.
„Aber-!“ Der Soldat flog nun auf der Stelle und warf seinem Kameraden nervöse Blicke zu.
„Ich befehle euch zu landen!“, wiederholte Lorane.
Es ertönte kein Widerwort und sie sanken hinab. Sie landeten nicht unweit des Palastes entfernt und sofort sprangen die beiden Kinder von den Armen der Männer. Die Soldaten packten die beiden an den Schultern und zogen sie in eine der Nebengassen der Hauptstraße.
„Ihr wartet hier“, gab der eine ihnen zu verstehen.
Lorane und Paul versuchten beide Proteste einzulegen, der Blick der Soldaten machte ihnen jedoch klar, dass sie bereits weit genug gegangen waren. Der Soldat, der Paul getragen hatte verschwand in die Richtung, aus der die Geräusche gekommen waren.
Kaum war er um die Ecke gebogen, war es wieder ganz still. Lorane und Paul warteten. Missmutig beäugten sie den zweiten Soldaten und die Gasse, in welcher sie standen. Sie warteten lang, sehr lang. Der Soldat wurde ungeduldig, er fuhr mit seiner Hand immer wieder über den Griff seines Schwertes. Gerade als Paul sich nach Lorane umwandte, um etwas zu sagen, rannte diese plötzlich los.
„Es kam aus dieser Richtung!“, murmelte sie.
Der Soldat und Paul reagierten sofort. Lorane bog um dieselbe Ecke wie der andere Wachmann, rannte eine kleine Gasse entlang, bis sie auf einem Hinterhof ankam.
Der zweite Soldat wartete, als hätte er sich nicht von der Stelle bewegt. Wie eingefroren betrachteten sie die Szenerie vor ihnen. Eine Schar von Soldaten lag auf der Erde und rührte sich nicht mehr. Ihre Waffen lagen teils zerstört, teils achtlos auf dem Boden neben ihnen. Unter den bewegungslosen Körpern hatte sich der Boden dunkelrot gefärbt. Die Leichen der Männer waren zerrissen und durchlöchert, Blut überzog ihre silbernen und blauen Rüstungen. In der Mitte der Leblosen lag ein Mann, derer Lorane aufmerksam wurde. Durch die Blutlachen stolperte sie näher heran, der Rest der Szenerie schien sie auszublenden. Der Mann hatte sein Schwert noch in der Hand, sein haselnussbraunes Haar glänzte im Schein des Vollmondes. Lorane stürzte auf ihn zu und drehte ihn um.
Merow hatte die Augen geschlossen. Ein tiefer Schnitt durchzog seine linke Gesichtshälfte und in seinem Brustkorb klaffte ein blutendes Loch. Doch Lorane achtete überhaupt nicht darauf, sondern schüttelte den schlaffen Körper ihres Vaters und spürte sofort wie die Tränen zurückkamen. Sie ließ ihren Kopf auf seine Brust sinken; kein Klopfen war zu hören. Sie war nicht imstande etwas zu sagen, Lorane schloss ihren leblosen Vater einfach in ihre Arme und wollte ihn nie wieder loslassen. Sie weinte, sie weinte bitterlich in sich hinein, warum sie eigentlich hier draußen war hatte sie vollkommen vergessen. Es konnte nicht wahr sein. Erst vor wenigen Stunden hatte sie noch mit ihm im Thronsaal gespielt. Er war leicht erbost mit ihr gewesen, weil sie versuchte hatte zu schummeln. Das konnte nur ein schlimmer Traum sein, der sie nun dafür bestrafte.
Von hinten legte sich eine Hand auf ihre Schulter, sie reagierte nicht darauf. Paul rüttelte Lorane leicht und versuchte ihre Arme von Merows Körper zu lösen.
„Lorane, komm! Du kannst nichts mehr für ihn tun, wir müssen los, sie sind bestimmt schon ganz nah!“
„Er- Er hat Recht. Wir müssen uns beeilen!“, ertönte die matte Stimme des Soldaten.
Lorane konnte hören, wie sie alle auf sie zukamen, aber sie rührte sich nicht. Sie wollte darauf warten, dass Merow zu lachen begann und ihr sagte, dass er nur gespielt hatte.
Paul kniete sich zu ihr hinunter und sprach ihr ins Ohr: „Er wollte, dass du sicher von hier weg kommst, er wollte dich beschützen. Willst du etwa, dass wir deinen Vater enttäuschen?“
Lorane blickte zu ihm auf, schniefte, wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und schüttelte den Kopf. Sanft ließ sie ihren Vater zu Boden gleiten und nahm ihre Hand von seiner Brust. Zögerlich trottete sie zu dem Soldaten hinüber, ihre eigene Kleidung nun mit Blut befleckt, und blickte immer wieder auf den toten Körper zurück, bis sie erneut die Flügel sah und sich in den Armen des Soldaten versteckte.
Der Wind zischte an ihnen vorbei, Loranes Tränen verflogen über den Dächern. Nach einigen Minuten erreichten sie schließlich die Stadtmauer von Rectis. Das große, silbern schimmernde Tor stand offen, seine Wachen lagen ohnmächtig am Boden. Ohne sich nach ihren Kameraden umzusehen, landeten die beiden Soldaten unweit der Hauptstraße entfernt.
„Schnell! Folgt mir!“ Der Mann, der Lorane getragen hatte, deutete die abschüssige Landschaft hinab.
Paul musste Lorane regelrecht mit sich zerren und gemeinsam machten sie sich daran den Hügel hinab zu eilen ohne auf dem spröden Stein auszurutschen.
„Wo gehen wir überhaupt hin?“, rief Lorane.
Paul warf fieberhaft einen Blick über die Schulter; er sah niemanden.
„Es ist nicht mehr weit!“, sagte der Soldat hinter ihnen. „Wir müssen Euch nur von hier wegbringen!“
Sie kamen an einem Felsvorsprung an, wo einige Stufen in den Felsen geschlagen worden waren. Zwei Fackeln brannten dort zwischen den grauen Steinen, die den Eingang zu einem Tunnel flankierten. Der erste Soldat rannte hinunter. Hinter ihr sah Lorane aus dem Winkelwinkel, wie der zweite Soldat soeben die Hand ausstreckte, um sie unterstützend am Arm zu greifen. Dann schrie er und stürzte zu Boden. Am Kopf der Treppe wandte Lorane sich um und sah nicht, dass sie ins Leere trat.
Paul war bereits hinabgestiegen und sah wie ihr Körper die Felsen hinabstürzte. Panisch rannte er zu ihr und drehte ihren bewusstlosen Körper um. Blut floss aus einer Wunde an ihrem Kopf, sie atmete aber noch, wie er erleichternd feststellte.
„Nimm sie und lauf in den Tunnel!“, wies der Soldat abrupt an. Er holte den Zettel von Lira hervor, den Paul ihm gegeben hatte. „Tu das, was hier steht und bring sie in Sicherheit!“
Paul stutzte einen Augenblick, dann hörte er erneut den Schrei des zweiten Soldaten oberhalb der Stufen.
„Sie sind hier, beeil dich!“
Hastig wischte Paul das Blut aus Loranes Gesicht, dann half der Soldat ihm hastig dabei sie auf seinen Rücken zu nehmen. Paul rannte an den Flammen vorbei in das Innere des Berges. Zuerst hallte das Grölen des Wachmannes an sein Ohr. Kurz darauf glaubte er im Tunnel Schritte in der Ferne hören zu können. Furcht durchzog Pauls Muskeln, seine Lunge brannte, aber er musste schneller sein!
Er kam am Ende des Ganges an und betrat einen etwas größeren Hohlraum. Dieser war von Fackeln erleuchtet, auch hier befand sich eine Treppe, die zu einer kleinen Erhöhung hinaufführte. Paul lief die Stufen hinauf, nahm Lorane von seinen Schultern und legte sie vorsichtig zu Boden. Er kramte Liras Zettel aus seiner Hosentasche und gerade als er den Mund öffnete, um etwas zu sagen, hörte er dieses leise, kalte Lachen hinter sich. Er warf einen Blick über die Schulter.
„Komm Junge, lass uns das einfach alles vergessen und gib uns das Mädchen“, sagte ihr Anführer, der einen Schritt auf Paul zuging.
Dieser erwiderte nichts und starrte ihn an. Er musste versuchen sich abzuwenden, doch er kam nicht umhin eine Frage zu stellen.
„Wer seid ihr?“
Der Mann vor ihm lachte, diesmal klang es wärmer und dann zog er die schwarze Vermummung von seinem Gesicht. Ein junger Mann stand vor Paul, er hatte ein schmales, blasses Gesicht und unter seinem linken Auge verlief eine helle Narbe, die sich bis zu seiner Nase zog. Seine Augen waren blutrot und hefteten sich sofort an Pauls Anblick wie gierige Insekten.
„Ein neugieriges Kind. Mein Name ist Tyranne und ich bin der Anführer dieser Truppe, die jedem Wort unseres Königs folgeleistet. Apropos“, fügte er hinzu und wurde plötzlich ernst. „Gib uns das weswegen wir hier sind! Her mit dem Mädchen!“ Für einen Moment setzte er wieder dieses gutgemeinte Lächeln auf. „Ich will dich nicht zwingen müssen.“
Paul wandte sich nun endgültig um. Er konnte ihnen Lorane nicht geben! Andererseits würden sie sie einfach holen, wenn er sie ihnen nicht überließ. Gegen die Leute aus dem Norden hatte niemand eine Chance, das wusste er. Langsam lief er auf den Aufgang zu, wo Lorane noch immer ohnmächtig lag und von allem nichts bemerkte. Er trat an sie heran und beugte sich zu ihr hinunter. Den Rücken hatte er den Männern zugewandt, die nicht sahen, dass er in seiner Hand noch immer die aufgefaltete Notiz hielt. Während er vorgab behutsam eine Hand auf sie zu legen, flüsterte er schnell einige Worte in einer seltsam klingenden Sprache, welche er von Liras Papier so klar wie möglich ablas.
Lorane glühte auf, Paul stieß einen Schmerzensschrei aus und zog seine Hand zurück. Er stolperte einige Schritte nach hinten. Loranes Körper begann sich in Licht aufzulösen und schwebte über dem Boden.
„WAS HAST DU GETAN?!“, kreischte Tyranne.
Paul fiel die Treppe hinunter, als von Lorane ein heller Lichtblitz ausging und sie alle für einige Sekunden nichts sahen. Als Paul wieder die Augen öffnete musste er feststellen, dass sie verschwunden war, ohne eine Spur hinterlassen zu haben.
Mit offenem Mund starrte er auf die Stelle, an der sie vor wenigen Sekunden noch gelegen hatte. Schwankend rappelte er sich vom Boden auf. Lira hatte ihm nicht erzählt was sie geschrieben hatte oder was passieren würde. Sie hatte ihm gesagt, dass sie die Befehle an den Soldaten weiterreichen und sie notfalls an sich nehmen sollte. In den Buchstaben der allgemeinen Sprache hatte sie Worte geschrieben, die keinen Sinn ergaben, doch die Anweisung war klar und deutlich gewesen:
Lies diese Worte, wenn Lorane sich im Tempel befindet.
Wie gebannt betrachtete Paul die Stelle, an der seine beste Freundin ins Nichts verflogen war.
„Das hättest du lieber nicht getan, Bürschchen!“

Paul blinzelte einmal, zweimal, bewegte sich aber nicht. Er wusste nicht, was er jetzt tun sollte. Wortlos blickte er einfach an den Männern in Schwarz vorbei. Tyranne lief auf ihn zu, seine Gefährten folgten ihm auf den Fuß. Paul versuchte nicht einmal zu fliehen, er schloss einfach die Augen und wartete.

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